Das BFH-Urteil vom 16.04.2024 (IX R 38/21) behandelt die Wegzugsbesteuerung nach § 6 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 AStG in der Fassung des Gesetzes über steuerliche Begleitmaßnahmen zur Einführung der Europäischen Gesellschaft und zur Änderung weiterer steuerrechtlicher Vorschriften vom 07.12.2006 (a. F.). Im Mittelpunkt des Urteils stand die Frage, wann das Besteuerungsrecht Deutschlands eingeschränkt bzw. ausgeschlossen wird und damit in welchem Veranlagungszeitraum der Gewinn aus dem Ersatztatbestand der Wegzugsbesteuerung zu besteuern ist.
Sachverhalt
Im Fall des BFH-Urteils vom 16.04.2024 (IX R 38/21) hielten die Eltern des in Deutschland ansässigen Klägers und Revisionsbeklagten eine Immobilie in Spanien. Die Eltern brachten gegen die Gewährung von Gesellschaftsrechten das Ferienhaus in eine spanische Kapitalgesellschaft (S. L.) ein. Im Jahr 2006 übertrugen die Eltern dem Kläger sowie dessen Bruder jeweils 24 % der Anteile an der S. L. unter dem Vorbehalt des Nießbrauchs.
Nach Abgabe der Einkommensteuererklärung für das Streitjahr 2013 hat der Kläger das Finanzamt mit Hilfe eines als „Berichtigungserklärung gemäß § 153 AO“ titulierten Schreibens über den Erwerb der Immobilie, dessen Einbringung in die A-Gesellschaft und den Übertrag der Anteile an der S. L. in Kenntnis gesetzt.
Das Finanzamt kam zu dem Schluss, dass die Änderung des Abkommens vom 03.02.2011 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Königreich Spanien zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und zur Verhinderung von Steuerverkürzungen im Bereich der Einkommen- und Vermögenssteuern (im Folgenden DBA Spanien) durch die damit verbundene Änderung des Besteuerungsrechts von Gewinnen aus der Veräußerung von Anteilen an in Art. 13 Abs. 2 DBA Spanien genannte Immobilien-Kapitalgesellschaften eine Entstrickung der in der Beteiligung des Klägers an der A-Gesellschaft ruhenden stillen Reserven gemäß § 6 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 AStG in der im Streitjahr geltenden Fassung zur Folge habe. Am 29.06.2015 änderte das Finanzamt daher die Einkommensteuerfestsetzung für 2013 gemäß § 164 Abs. 2 AO und erfasste erstmals einen Entstrickungsgewinn als Einkünfte aus Gewerbebetrieb. Dabei schätzte es, dass in der Beteiligung des Klägers an der A-Gesellschaft zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des revidierten DBA Spanien (01.01.2013) stille Reserven in Höhe von 96.000,00 € (24 % von 400.000,00 €) vorhanden waren, die nach dem Teileinkünfteverfahren mit 57.600,00 € als Einkünfte aus Gewerbebetrieb gemäß § 17 Abs. 1 Satz 1 EStG i. V. m. § 6 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 AStG zu versteuern seien.
Urteil des BFH
Entsprechend der Ausführungen des BFH hätte allerdings eine Wegzugsteuer gemäß § 6 Abs. 1 S. 2 Nr. 4 AStG nur im Veranlagungszeitraum 2012 als Einkünfte aus Gewerbebetrieb erfasst werden können. Hintergrund sei, dass das revidierte DBA Spanien gemäß Art. 30 Abs. 2 Buchst. B DBA Spanien erst zum 01.01.2013 anzuwenden ist und daher wäre der Entstrickungsgewinn des Streitfalls gemäß § 17 Abs. 1 Satz 1 i. V. m. § 6 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 AStG mit Ablauf des 31.12.2012 zu berücksichtigen gewesen.
Hierbei bezog sich der BFH auf seine frühere Rechtsprechung, nach der die Wegzugsteuer gemäß § 6 Abs. 1 Satz 1 AStG im Zeitpunkt der Beendigung der unbeschränkten Einkommensteuerpflicht eintrete. Der Steuerzugriff knüpfe an die letztmalige unbeschränkte Steuerpflicht des Wegziehenden an und sei nicht der erste Akt nach Eintritt der beschränkten Steuerpflicht (BFH-Beschluss vom 23.09.2008 – I B 92/08, unter II.2.c). Die Besteuerung erfolgt somit in der letzten juristischen Sekunde der unbeschränkten Steuerpflicht des Wegziehenden.
Nichts anderes gelte für den Ersatztatbestand des § 6 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 AStG. Nach diesem wird der Ausschluss oder die Beschränkung des Besteuerungsrechts Deutschlands einer Beendigung der unbeschränkten Einkommensteuerpflicht gleichstellt. Ein wie im Urteilsfall aus dem Ersatztatbestand resultierender Entstrickungsgewinn ist somit in dem Zeitpunkt in Ansatz zu bringen, in dem Deutschland abkommensrechtlich letztmalig das (unbeschränkte) Besteuerungsrecht für einen Veräußerungsgewinn innehatte. Die gegenteilige sowie inhaltlich nicht begründete Ansicht der Finanzverwaltung, die als maßgeblichen Zeitpunkt für die Besteuerung die erstmalige Anwendbarkeit des revidierten DBA für maßgeblich hält (BMF-Schreiben vom 26.10.2018, dort Tz. 1), sei mit den Ausführungen zum Grundtatbestand des § 6 Abs. 1 Satz 1 AStG nicht vereinbar.
Somit liegt der maßgebliche Zeitpunkt für die Besteuerung des Wegzugsgewinns nach Urteil des BFH vor dem Inkrafttreten des revidierten DBA, da Deutschland bis zum 31.12.2012 uneingeschränkt das Besteuerungsrecht an den Anteilen hatte. Deshalb hat sich der Entstrickungsgewinn bereits im Jahr 2012 realisiert und hätte entsprechend besteuert werden müssen. Für das Streitjahr 2013 konnte der Entstrickungsgewinn nicht mehr berücksichtigt werden.
Das Verständnis des BFH ist für die im Zuge der Umsetzung der Anti Tax Avoidance Directive (ATAD) vom 25.06.2021 erfolgte Neuregelung des § 6 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 (jetzt: § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AStG) gesetzlich verankert worden. Entsprechend der gesetzlichen Neufassung, welche erstmals für den Veranlagungszeitraum 2022 anzuwenden ist, ist der fiktive Veräußerungstatbestand unmittelbar vor dem Zeitpunkt des Ausschlusses oder der Beschränkung des deutschen Besteuerungsrechts zu verorten (§ 6 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AStG i. d. F. des ATADUmsG). Nach Auffassung des BFH in dem aktuellen Urteil handele es sich bei der Neufassung des § 6 AStG diesbezüglich um eine Klarstellung der schon zuvor geltenden Rechtslage. Insbesondere enthalte auch die Gesetzesbegründung keine Anhaltspunkte für eine vom Gesetzgeber beabsichtigte Änderung der rechtlichen Beurteilung des maßgeblichen Zeitpunkts für die Besteuerung eines Entstrickungsgewinns gemäß § 6 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 AStG.
Fazit
Das ergangene Urteil ist für Altfälle, d. h. Wegzugstatbestände, die vor dem 01.01.2022 verwirklicht wurden, eine willkommene Klarstellung. Des Weiteren verdeutlicht das Urteil die bei der Neufassung des § 6 AStG im Zuge der Umsetzung der ATAD-Richtline hohe Bedeutung der eindeutigen gesetzlichen Regelung des Zeitpunkts des steuerauslösenden Ereignisses. Die Regelungen der deutschen Wegzugsbesteuerung sind für Steuerpflichtige auch so schon höchst komplex.