Mit veröffentlichtem Beschluss vom 18.08.2021 hat das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass die Verzinsung von Steuernachforderungen und Steuererstattungen in § 233a i.V.m. § 238 Abs. 1 Satz 1 der Abgabenordnung verfassungswidrig ist, soweit der Zinsberechnung für Verzinsungszeiträume ab dem 01.01.2014 ein Zinssatz von monatlich 0,5 % zugrunde gelegt wird (6 % p.a.).
Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat entschieden (Az. 1 BvR 2237/14, 1 BvR 2422/17), dass die Verzinsung von Steuernachforderungen und Steuererstattungen (§ 233a i.V.m. § 238 Abs. 1 Satz 1 AO) verfassungswidrig ist, soweit der Zinsberechnung für Verzinsungszeiträume ab dem 01.01.2014 ein Zinssatz von monatlich 0,5 % zugrunde gelegt wird (6 % p.a.).
Im Einzelnen führte das BVerfG das Folgende aus:
- Die Verzinsung von Steuernachforderungen mit einem Zinssatz von monatlich 0,5 % nach Ablauf einer zinsfreien Karenzzeit von grundsätzlich 15 Monaten stellt eine Ungleichbehandlung von Steuerschuldnern, deren Steuer erst nach Ablauf der Karenzzeit festgesetzt wird, gegenüber Steuerschuldnern, deren Steuer bereits innerhalb der Karenzzeit endgültig festgesetzt wird, dar.
- Diese Ungleichbehandlung erweist sich gemessen am allgemeinen Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 GG für in die Jahre 2010 bis 2013 fallende Verzinsungszeiträume noch als verfassungsgemäß, für in das Jahr 2014 fallende Verzinsungszeiträume dagegen als verfassungswidrig. Der typisiert festgelegte Zinssatz von 6 % p.a. erweist sich spätestens ab dem Jahr 2014 als „evident realitätsfern“.
- Ein geringere Ungleichheit bewirkendes und mindestens gleich geeignetes Mittel zur Förderung des Gesetzeszwecks bestünde insoweit in einer Vollverzinsung mit einem niedrigeren Zinssatz.
- Die Unvereinbarkeit der Verzinsung nach § 233a AO mit dem Grundgesetz umfasst ebenso die Erstattungszinsen zugunsten der Steuerpflichtigen.
- Das bisherige Recht ist für bis einschließlich in das Jahr 2018 fallende Verzinsungszeiträume weiter anwendbar.
- Für ab in das Jahr 2019 fallende Verzinsungszeiträume sind die Vorschriften dagegen unanwendbar. Der Gesetzgeber ist verpflichtet, bis zum 31.07.2022 eine verfassungsgemäße Neuregelung zu treffen.
Die Ausführungen des BVerfG aufgreifend, ergeben sich folgende erste Schlussfolgerungen für die Praxis:
- Der Gesetzgeber wird – aller Voraussicht nach – bis zum 31.07.2022 mit Rückwirkung auf den 01.01.2019 einen (deutlich) niedrigeren Zinssatz festsetzen. Wie hoch der Zinssatz in Zukunft sein darf, hat das Bundesverfassungsgericht allerdings nicht entschieden. In ersten Reaktion auf die Entscheidung des BVerfG ist von einer Halbierung des Zinssatzes, d.h. auf 3 % p.a., oder von einem variablen Zinssatz, der sich am aktuellen Zinsniveau orientiert, die Rede.
- Das Bundesfinanzministerium hat als Reaktion auf das Urteil des BVerfG bereits mitgeteilt, das Problem schnell angehen zu wollen. Man werde “zusammen mit den obersten Finanzbehörden der Länder zügig die Vorbereitungen treffen, um die Entscheidung des Verfassungsgerichts umzusetzen“.
- Wegen der unklaren Rechtslage hatten die Finanzämter die Zinsen in der überwiegenden Anzahl der Fälle spätestens seit Mai 2019 nur vorläufig festgesetzt. Das heißt, die Bescheide können in der Regel nun nachträglich, d.h. mit Rückwirkung auf den 01.01.2019, geändert werden.
- Sollten für die Jahre ab 2019 Nachzahlungs- oder Erstattungszinsen entstanden sein, ist grundsätzlich jeweils mit einer Herabsetzung von diesen im Zeitpunkt der Neuregelung der Zinshöhe von Amts wegen zu rechnen. Es wird – sofern die Nachzahlungs- oder Erstattungszinsen bereits gezahlt wurden – dadurch grundsätzlich zu Erstattungen respektive Nachzahlungen beim Steuerpflichtigen kommen. Im Hinblick auf die Herabsetzung von Erstattungszinsen und damit einhergehende Nachzahlungen gilt es jedoch zu prüfen, ob die Vertrauensschutzregelung des § 176 AO Anwendung findet. Dadurch könnte eine Herabsetzung der Erstattungszinsen unter Umständen verhindert werden.
- Für die Jahre bis 2018 ist – laut Auffassung des BVerfG – trotz Verfassungswidrigkeit, das bisherige Recht, d.h. eine Verzinsung von 6 % p.a., weiterhin anwendbar. Eine Herabsetzung der Verzinsung für Jahre bis 2018 scheidet damit grundsätzlich aus. Das BVerfG ist dem Gesetzgeber – unserer Einschätzung nach – damit deutlich entgegengekommen, zum Schaden der Steuerpflichtigen in der Mehrzahl der Fälle, die den “evident realitätsfernen” Zinssätzen für die Jahre 2014 bis 2018 weiterhin ausgesetzt sind.
Es bleibt abzuwarten – auch vor dem Hintergrund der anstehenden Bundestagswahl – zu welchem Zeitpunkt ein neuer Zinssatz nach § 233a AO festgesetzt werden wird. Es bleibt in diesem Zusammenhang nur zu hoffen, dass dieser deutlich niedriger als der bisher festgesetzte Zinssatz von 6 % p.a. sein wird. Ansonsten ist nicht auszuschließen, dass in einigen Jahren die Frage der Verfassungsmäßigkeit der Höhe des Zinssatzes nach § 233a AO wieder von dem Bundesverfassungsgericht beantwortet werden muss.