Das Urteil des BFH vom 20.11.2024 (II R 38/22) beschäftigt sich mit der Berechnung des Kapitalwerts eines Nießbrauchsrechts im Rahmen der Erbschaft- und Schenkungsteuer. Konkret ging es um die Frage, wie der Wert eines nießbrauchsbelasteten GmbH-Anteils im Schenkungsfall zu berechnen ist und ob die dabei verwendeten Sterbetafeln, die geschlechtsspezifische Unterschiede in der Lebenserwartung berücksichtigen, verfassungsgemäß sind.
Hintergründe: Wie wird der Nießbrauch bewertet?
1. Kapitalwert des Nießbrauchs (§ 14 Abs. 1 BewG):
- Für die steuerliche Bemessung von Vermögenswerten, die mit einem Nießbrauchsrecht belastet sind, wird der Jahreswert des Nießbrauchs mit einem gesetzlichen Vervielfältiger multipliziert. Dieser Vervielfältiger wird anhand der statistischen Sterbetafeln des Statistischen Bundesamtes berechnet.
- Diese Sterbetafeln unterscheiden zwischen Geschlechtern, da Frauen statistisch eine längere Lebenserwartung haben als Männer.
2. Anwendung geschlechtsspezifischer Sterbetafeln:
- Der Kapitalwert eines lebenslänglichen Nießbrauchs wird maßgeblich durch die statistische Lebenserwartung des Nießbrauchsberechtigten bestimmt. Männer und Frauen erhalten daher unterschiedliche Vervielfältiger.
- Hintergrund ist, dass die tatsächliche Dauer der Nutzung (Nießbrauch) bei Frauen durch ihre längere Lebenserwartung im Durchschnitt höher ausfällt, was den steuerlich anzusetzenden Kapitalwert erhöhen kann.
Sachverhalt im Streitfall
- Ein 74-jähriger Mann übertrug schenkweise GmbH-Anteile auf seine Kinder mit vorbehaltendem Nießbrauchsrecht. Der Kapitalwert des Nießbrauchs wurde durch das Finanzamt nach den gesetzlichen Vorgaben mit einem Vervielfältiger von 8,431 berechnet und brachte diesen vom Anteilswert der GmbH-Anteile in Abzug.
- Der Kläger erhob Einspruch, argumentierte eine mathematische Unstimmigkeit und forderte die Anwendung eines alternativen höheren Vervielfältigers (9,509), der vermeintlich die tatsächliche Sterberisikoentwicklung präziser erfassen sollte.
- Der Kläger rügte zudem die Anwendung geschlechtsspezifischer Sterbetafeln als Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz gemäß Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG.
Argumentation des BFH
Der BFH hatte sich mit mehreren rechtlichen und verfassungsrechtlichen Fragen auseinanderzusetzen, darunter:
1. Die Zulässigkeit geschlechtsspezifischer Sterbetafeln:
- Das Gericht stellte fest, dass die Differenzierung aufgrund geschlechtsspezifischer Lebenserwartungen gerechtfertigt ist. Sie dient dem Ziel, eine realitätsnahe und gleichheitsgerechte Bewertung sicherzustellen, da geschlechtsspezifische Unterschiede in der Lebenserwartung eine wesentliche Relevanz für die Bewertung haben.
- Eine geschlechtsneutrale Berechnung, etwa mit einem Durchschnittswert beider Geschlechter, wäre weniger präzise und würde die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Steuerpflichtigen ungenau abbilden.
2. Die gesetzliche Bindung an Sterbetafeln:
- Der Gesetzgeber hat zur Berechnung von Kapitalwerten die Verwendung der jeweils aktuellen Sterbetafeln angeordnet (§ 14 Abs. 1 BewG). Die Steuerverwaltung und die Gerichte müssen diese Vorgaben einhalten und dürfen keine alternativen Rechenmodelle zulassen, die nicht gesetzlich vorgesehen sind.
- Ein nachweislich abweichender Kapitalwert hätte nur auf Grundlage eines tatsächlich belegten, gemeinen Werts angenommen werden können (§ 14 Abs. 4 Satz 1 BewG). Dies konnte der Kläger jedoch nicht darlegen.
3. Verfassungsmäßigkeit der Regelung:
- Der BFH kam zu dem Ergebnis, dass die geschlechtsspezifisch differenzierende Bewertung keine Verletzung des Gleichheitsgrundsatzes darstellt. Sie basiert auf sachlichen, statistischen Unterschieden und führt letztlich zu einer gerechteren Verteilung der Steuerlast – je nach tatsächlicher Dauer des Vermögensvorteils (Nießbrauchs).
- Zudem sieht das Gesetz in § 14 Abs. 2 BewG einen Mechanismus vor, um bei außergewöhnlich kurzen Lebenszeiten nachträgliche Korrekturen vorzunehmen.
Fazit
Das BFH urteilt deutlich: Die geschlechterdifferenzierende Bewertung des Kapitalwerts von Nießbrauchsrechten ist rechtmäßig, da sie der Realität entspricht und eine gleichheitsgerechte Besteuerung fördert. Dieses Urteil bestätigt die bestehende Berechnungsweise und weist auf die Bedeutung von Gesetzesbindung und Praktikabilität bei steuerrechtlichen Bewertungsfragen hin.