Das Oberlandesgericht Karlsruhe hat in einer erbrechtlichen Streitigkeit richtungsweisend zur Abgrenzung zwischen Nießbrauchsvermächtnis und Vor- und Nacherbschaft entschieden (Urt. v. 01.10.2024 – 14 U 144/23). Der Fall drehte sich um ein handschriftliches Testament, dessen Auslegung eine verwitwete Erblasserin, deren spätere Eheschließung und die gesetzliche Erbfolge betraf. Die Entscheidung gibt wichtige Hinweise für die Gestaltung letztwilliger Verfügungen und verdeutlicht, wie der mutmaßliche Wille des Erblassers ermittelt wird.
Sachverhalt
Im Fokus des Falles stand das Testament einer kinderlos verstorbenen Erblasserin, die 2011 ihrem damaligen Lebensgefährten ein Nutzungsrecht über ihr Vermögen eingeräumt hatte – „solange er lebt“. 2019 heiratete sie denselben Lebensgefährten, wodurch sein gesetzliches Erbrecht aktiviert wurde. Die Klägerin, eine Nichte der Erblasserin, sah in der letztwilligen Verfügung von 2011 eine Anordnung von Vor- und Nacherbschaft zugunsten der leiblichen Familie. In der Folge kam es zu Konflikten hinsichtlich der Auslegung des Testaments sowie der Verteilung des erheblichen Nachlasses. Das Nachlassgericht hatte den Ehepartner der Erblasserin als Erben zu drei Vierteln und die Klägerin sowie deren Geschwister gemäß gesetzlicher Erbfolge zu je einem Zwölftel ausgewiesen. Die Klägerin machte jedoch geltend, dass das Testament eine Vor- und Nacherbschaft anordne, die steuerlich und familiär absichernde Konsequenzen haben sollte.
Das OLG Karlsruhe lehnte die Berufung der Klägerin ab. Die Richter kamen zu dem Ergebnis, dass weder aus dem Wortlaut des Testaments noch aus den Umständen eindeutig hervorgehe, dass eine Vor- und Nacherbschaft gewollt war. Damit trägt die Klägerin als beweisbelastete Partei die Konsequenzen der Auslegungsunsicherheiten.
Entscheidungsgründe
Der Wortlaut des Testaments erlaubt keine eindeutige Feststellung.
Das Testament der Erblasserin enthielt die Formulierung, dass ihrem damaligen Lebensgefährten ein „Nutzungsrecht über mein Vermögen“ zustehe, „solange er lebt“. Diese Wortwahl sei nach juristischer Terminologie ein Hinweis auf die Einräumung eines Nießbrauchsvermächtnisses (§ 1030 BGB), da der Nießbrauch genau diese Berechtigung umfasst. Auch eine Vor- und Nacherbschaft, bei der der Vorerbe zwar Eigentümer des Nachlasses wird, jedoch nur eingeschränkt verfügen darf, setze nicht zwingend einen spezifischen Hinweis auf „Vor- und Nacherbschaft“ voraus.
Das Gericht stellte fest, dass von einer juristischen Laiin, wie die Erblasserin es war, nicht erwartet werden könne, präzise juristische Sprachregelungen zu verwenden. Die fehlende Benennung von Nacherben im Testament spreche zwar gegen eine Vor- und Nacherbschaft, stehe ihr jedoch nicht zwingend entgegen. Auch dies schließt die Rechtsposition des Beklagten als Vorerbe nicht aus. Im Ergebnis ließ der Wortlaut also beide Deutungen zu und konnte die Frage allein nicht klären.
Neben dem Wortlaut sind die tatsächlichen Umstände außerhalb des Testaments bei der Auslegung zu berücksichtigen.
Weitere Überlegungen der Richter bezogen sich auf den Gesamtzusammenhang und den mutmaßlichen Willen der Erblasserin zum Zeitpunkt der Testamentserrichtung 2011. Die unstreitige Zielsetzung der Versorgung des Lebensgefährten (späteren Ehemanns) sei durch ein Nießbrauchsvermächtnis ebenso zu erreichen wie durch die Stellung des Witwers als Vorerben. Auch das Ziel, das Vermögen in der leiblichen Familie zu halten, könne durch die gesetzliche Erbfolge zum Zeitpunkt der Testamentserrichtung gewährleistet werden, da der Lebensgefährte zu jener Zeit noch keinen Anspruch auf das Erbe gehabt hätte.
Die Eheschließung im Jahr 2019 änderte die erbrechtliche Situation grundlegend, da der Witwer durch die Heirat nach §§ 1924, 1931 BGB als gesetzlicher Miterbe privilegiert wurde. Dennoch hatte die Erblasserin nach der Heirat das Testament nicht geändert, was laut Gericht ein Indiz dafür sei, dass die ursprüngliche Regelung weiterhin ihrem Willen entsprach.
Die Ersparnis von Erbschaftsteuer ist bei der Auslegung nach dem mutmaßlichen Willen der Erblasserin mitzuberücksichtigen.
Das Gericht stellte zudem fest, dass die steuerlichen Folgen der jeweiligen erbrechtlichen Gestaltung einen zentralen Anhaltspunkt für die Auslegung des Testaments geben. Eine Anordnung der Vor- und Nacherbschaft hätte für die Erblasserin und ihre Erben erhebliche steuerrechtliche Nachteile nach sich gezogen, da in diesem Fall die gesamte Erbschaft zweimal versteuert worden wäre: einmal beim Vorerben und ein weiteres Mal beim Nacherben. Ein Nießbrauchsvermächtnis hingegen sei steuerlich wesentlich günstiger, da nur der Wert des Nießbrauchsvermächtnisses deutlich geringer als der des gesamten Nachlasses ist.
Angesichts der Tatsache, dass die Erblasserin über steuerrechtliche Beratung verfügte und in wirtschaftlichen Fragen erfahren war, sei anzunehmen, dass sie die steuerrechtlich vorteilhaftere Gestaltung gewählt habe.
Andere Umstände, die eine Vor- und Nacherbschaft nahelegen, hat die Klägerin nicht bewiesen.
Das Gericht hob hervor, dass die Klägerin als Partei, die aus der behaupteten Vor- und Nacherbschaft Rechte ableiten wolle, die Beweislast trägt. Allein die von der Klägerin behaupteten Äußerungen der Erblasserin gegenüber Verwandten, welche eine Vor- und Nacherbschaft nahelegen könnten, seien bestritten und nicht hinreichend bewiesen worden. Selbst wenn sie glaubhaft gewesen wären, wären sie als bloße Beschwichtigungen im familiären Kontext auszulegen gewesen.
Das OLG Karlsruhe folgte in der Gesamtwürdigung der Ansicht, dass der Eingriff in die gesetzliche Erbfolge und die Anordnung einer Vor- und Nacherbschaft nicht festgestellt werden könne. Die gesetzlichen Erbquoten blieben daher maßgebend. Das vom Beklagten beantragte und bestätigte Nießbrauchsvermächtnis erfüllte sowohl den Willen der Erblasserin, den Witwer zu versorgen, als auch die Zielsetzung, das Vermögen in die leibliche Familie zurückzuführen.
Praxishinweis
Das Urteil verdeutlicht die Bedeutung einer präzisen Testamentsgestaltung. Für eine klare und konfliktfreie Vermögensnachfolge sollte sichergestellt sein, dass letztwillige Verfügungen den tatsächlichen Erblasserwillen eindeutig dokumentieren. Zudem ist eine ganzheitliche Betrachtung erforderlich, die steuerliche und familienrechtliche Aspekte angemessen berücksichtigt. Wir unterstützen Sie dabei gerne.