Eine Rückstellung für die potenzielle Rückzahlung vorläufig festgesetzter, der Höhe nach verfassungswidriger Erstattungszinsen setzt voraus, dass der Zinssatz verfassungswidrig ist und die Möglichkeit zur Änderung der Zinsfestsetzung besteht. Ein Vorläufigkeitsvermerk durchbricht aber nicht den Vertrauensschutz des § 176 AO, sodass die Zinsfestsetzung bei Verfassungswidrigkeit des Zinssatzes nicht zuungunsten des Steuerpflichtigen geändert werden kann. Für die Bildung einer Rückstellung bedeutet dies, dass nicht von einer hinreichenden Wahrscheinlichkeit der Rückzahlung ausgegangen werden darf.
Das FG Münster hat in seinem Urteil vom 28.08.2024 (9 K 615/24 F) über die Bildung einer Rückstellung für die potenzielle Rückzahlung vorläufig festgesetzter Erstattungszinsen entschieden. Im zugrunde liegenden Sachverhalt wurden Erstattungszinsen zugunsten des Steuerpflichtigen festgesetzt, wobei die Bescheide einen Vorläufigkeitsvermerk (§ 165 AO) hinsichtlich der Verfassungsmäßigkeit der Zinsen enthielten. Die Finanzbehörde kann, soweit sie die Steuer vorläufig festgesetzt hat, die Festsetzung aufheben oder ändern (§ 165 Abs. 2 Satz 1 AO). Für die Rückzahlung der Erstattungszinsen bildete der Steuerpflichtige eine Rückstellung für ungewisse Verbindlichkeiten, da die künftige Entstehung der Verbindlichkeit aus seiner Sicht hinreichend wahrscheinlich war.
Die Bildung einer Rückstellung für ungewisse Verbindlichkeiten war nach Auffassung des FG Münster nicht zulässig. Die Vorläufigkeitserklärung führe nicht dazu, dass das Bestehen einer Verpflichtung zur Rückzahlung der Erstattungszinsen und die tatsächliche Inanspruchnahme hinreichend wahrscheinlich war. Die Rückzahlungsverpflichtung sei in der vorliegenden Entscheidung dann hinreichend wahrscheinlich, wenn der Zinssatz verfassungswidrig ist und die Änderung der Zinsfestsetzung möglich ist. Die Wahrscheinlichkeit der Verfassungswidrigkeit des Zinssatzes war in der Entscheidung allerdings nicht von Bedeutung. Vielmehr kam es darauf an, dass die Änderung der Zinsfestsetzung durch das Finanzamt nicht hinreichend wahrscheinlich war.
Die Änderung der Zinsfestsetzung konnte im vorliegenden Fall nur aufgrund des Vorläufigkeitsvermerks nach § 165 Abs. 2 AO erfolgen. Bei Änderungen der Zinsfestsetzung war daher der Vertrauensschutz nach § 176 AO zu wahren, weshalb keine hinreichende Wahrscheinlichkeit der Möglichkeit zur Änderung der Zinsfestsetzung gegeben war. Der Vertrauensschutz verbietet es nämlich, einen Steuerbescheid zuungunsten des Steuerpflichtigen aufzuheben oder zu ändern, wenn das Bundesverfassungsgericht die Nichtigkeit eines Gesetzes feststellt, auf dem die bisherige Steuerfestsetzung beruht. Dies gilt ungeachtet des Wortlauts „Nichtigkeit“ auch für Fälle, in denen das Bundesverfassungsgericht ein Gesetz für mit dem Grundgesetz unvereinbar erklärt. Auch bei Änderungen vorläufiger Festsetzungen wird der Vertrauensschutz i. S. d. § 176 AO nicht durchbrochen.
Mit seiner Entscheidung stärkt das FG Münster mithin grundsätzlich die Stellung der Steuerpflichtigen, auch im Hinblick auf die Vorläufigkeitsvermerke auf Grundlage des BMF-Schreibens vom 02.05.2019 zur vorläufigen Festsetzung von Zinsen. Im vorliegenden Fall musste der Steuerpflichtige allerdings mangels Erfüllung der Tatbestandsvoraussetzungen seine Rückstellung gewinnerhöhend auflösen.